Gorham, NH

Haben wir uns schon seit Hunderten, wenn nicht, Tausenden von Meilen gefragt, warum jeder vor dem Absacken des Meilendurchschnitts in New Hampshire und den Whites gewarnt hat – haben wir die Antwort jetzt zu Genüge am eigenen Leibe erfahren.

Nach einem späten Start aus dem Hiker’s Welcome Hostel in Glencliff begnügten wir uns mit einem Fast-Zero, da wir uns lediglich nicht mal eine Meile bis zum nächsten Shelter am Fuße des ersten, beeindruckenden Bergmassivs Mt. Moosilauke schleppten. Am nächsten Tag stand dann die sich in wenigen Meilen fast 4000 Fuß erhebende Besteigung bevor, die überraschend einfach war. Zumindest einfacher, als wir erwartet hatten und einfacher als das, was uns noch bevorstand. In den White Mountains muss man definitiv mit anderen Tagestouren rechnen, so erreichten wir zwar den Gipfel schon dank eines Starts in der Dämmerung recht früh am Morgen, doch waren wir ja auch noch nicht wieder auf der anderen Seite des Bergs angelangt. Das sollte wohl unsere erste, harte Prüfung in den Whites darstellen, denn für lediglich anderthalb Meilen benötigten wir weit über zwei Stunden. Unten angekommen lasen wir auf einem Schild, dass es sich um eine extrem schwierige Sektion handeln soll, die nur erfahrene Wanderer auf sich nehmen sollen. Der Großteil des Abstiegs war direkt neben einem Wasserfall gelegen, wodurch die glatten Felsplatten eine stetige Zufuhr an Feuchtigkeit bezogen. Hilfe durch Holzstufen oder metallene Griffe war nur rudimentär angebracht.

Froh, nach neun Meilen endlich die Nordseite von Mt. Moosilauke bezwungen zu haben, planten wir, von der Straße nur flott in die nächste Stadt (Lincoln, NH) zu trampen, dort einzukaufen, zu essen, schnellstmöglich wieder zu verschwinden und irgendwo innerhalb der nächsten Meter auf dem Trail zu zelten, da Schlafmöglichkeiten im Ort tourismusbedingt teuer waren, doch hatten wir die Rechnung ohne Dan gemacht. Dan ist mit gerade einmal 55 Jahren pensionierter Feuerwehrmann und plant nächstes Jahr seinen eigenen Thruhike. Auf einem Parkplatz fing er uns in Begleitung zweier anderer Hiker, die wir im Glencliff’sche Hostel kennengelernt hatten und lud uns in sein Auto ein. Während der Fahrt zum Supermarkt fragte er uns, ob wir auch im „Hostel“ übernachten würden, wovon wir augenscheinlich nichts wussten. In unserem Wanderguide war Chets umgebaute Garage nicht erwähnt, wo der nach einem Campingkocherunfall im Rollstuhl sitzende Besitzer Hiker kostenlos unterkommen lässt. Angesichts des schlechter werdenden Wetters war die Entscheidung schnell gefällt, dochDan hatte noch ein weiteres Ass im Ärmel: Bei Interesse könnten wir den Abend mit Bier, Pizza und Wohnanlagenjacuzzi in seinem Ferienappartement verbringen, er war nämlich nur für ein paar Tage in der Gegend. Dankbar nahmen wir auch dieses Angebot an, ein heißes Bad hatten wir schon seit Monaten nicht genießen können. Gut gesäubert und gesättigt unterbreitete uns Dan seinen Masterplan: Am nächsten Tag könnten wir über den bevorstehenden Kinsman Mountain slackpacken und dann die Nacht nicht bei Chet, sondern in seiner Ferienwohnung verbringen, samt Jacuzzi und Abendessen. Als wir fluchend über vollkommen ungesicherten Felsen zum und vom Gipfel stolperten, vermissten wir unsere schwere Wanderrucksäcke ganz bestimmt nicht. Dafür hielt das Wetter weitaus besser und der erste Besuch in einer von insgesamt acht Huts kurz vor Ende des Tages überraschte uns schon wieder mit Dan, der vom Parkplatz aus ein wenig hochgewandert war.

Als uns Dan am nächsten Tag wieder zum Trail brachte, standen uns läppische zehn Meilen bevor, jedoch wieder mit unseren schweren Rucksäcken und der Besteigung von Mt. Lafayette. Auch hier lag die Krux nicht unbedingt im Aufstieg, der auf den zwei Meilen vor dem Gipfel an einem größtenteils sonnigen Tag mit grandiosen Aussichten belohnte, sondern am steinigen Abstieg. So kamen uns die geschafften zehn Meilen am Shelter gar nicht mal mehr so läppisch vor. Das Shelter gehörte im Übrigen zum ersten, für welches man bei Übernachtung bezahlen muss: Acht Dollar pro Person.

Nach Regen in der Nacht und am Morgen ging es weiter bergab und man hatte das Gefühl, in den Whites werden Wanderwege selten angelegt, sondern vielmehr an bestehende, baumfreie Strecken angepasst – da bietet sich ein steiniger Wasserfall ja geradezu an, der sich im Regen auch noch verstärkt hatte. 15 Meilen später waren sowohl wieder am Shelter als auch am Ende unserer Kräfte, dafür aber im letzten Shelter vor dem Masterpiece der Whites: Mt. Washington, der zweithöchsten Erhebung auf dem gesamten Trail, da der erste Platz an den längst vergangenen Clingman’s Dome in den Smokies geht. Nach diesem Shelter hätten wir nur die Möglichkeit, wild zu zelten, was sich nicht nur wegen des schnell umschlagenden Wetters jedoch als schwierig herausstellen konnte, oder wir würden 42 Meilen wandern, wo sich das nächste Shelter befände. Dazwischen gab es nur weitere der erwähnten Huts, wo wir eben am nächsten Abend unterkamen.

Normale Übernachtungen sind mit rund 130 Dollar pro Person und Nacht kaum zu bezahlen, doch seit jeher gibt es für Thruhiker die Möglichkeit des Work for Stay. Mit etwa 20 Minuten Arbeit verdient man sich so ein gemütliches Fleckchen Boden im Esssaal sowie die Reste von Abendessen und Frühstück, die die teuer zahlenden Gäste übrig lassen. An diesem Abend fand sich zudem die „President’s Society“ des betreibenden Wanderclubs AMC ein, weswegen auch noch Wein, Käse und Cracker gereicht wurden, woran wir uns gütlich tun durften. Da die Übernachtung so gut funktioniert hatte, planten wir dies ebenso für die nächste Nacht, da uns weitere acht Meilen bis zur Straße nach Gorham, NH viel zu spät hätten ankommen lassen. Wir taten gut daran zu warten, wie wir am nächsten Tag feststellten, da die vom Regen feuchten Steine und Felsen kaum passierbar waren und uns so drei Meilen mehr als dreieinhalb Stunden und eine ganze Menge unserer Kraft kosteten. Um so schnell wie möglich an die Straße nach Gorham zu kommen, nutzten wir eine Abkürzung über einen anderen Trail. Dort angekommen fand sich ein schneller Hitch in den Ort, wo wir uns für das Hiker’s Paradise als vorübergehende Bleibe entschieden. Heute sollte es laut Vorhersage gewittern, weswegen wir uns frei nahmen. Für morgen planen wir erneutes Slackpacking, um sicher über Wildcat Mountain, den ersten Berg außerhalb der Whites, und mit 21 Meilen überhaupt endlich mal wieder ein bisschen schneller vpran zu kommen. Ob das realistisch ist, wird sich zeigen.

Glencliff, NH

Aus Hanover konnten wir uns dank Bücherei, Dusche und Einkauf erst recht spät losreißen, weswegen wir, auch mit Blick auf den sich dunkler färbenden Himmel und den angekündigten Regen, es nur bis zum eine Meile außerhalb liegenden Shelter schaffen konnten. Das bedeutete aber auch, dass dann zwei härtere Tage vor uns liegen würden, wenn wir es bis Sonntagabend ins Hostel am Fuße von Mt. Moosilauke und somit am Beginn der White Mountains machen wollten – und dass wir nun von hier aus einen Statusbericht abgeben können, beweist unseren Erfolg. Dafür mussten wir jedoch hart kämpfen, auch wenn die Erhebungen wohl eher noch voralpiner Art waren und die wahren Herausforderungen noch bevorstehen. So wie morgen zum Beispiel, da müssen wir nämlich über genannten Berg – beziehungsweise zumindest hinauf, den steilen Abstieg sparen wir uns für übermorgen, da das Wetter in kommenden Tagen nicht mitspielen und Regen statt schwüler Sonne und Aussichten bringen soll, genau jetzt, wo die visuellen Leckerbissen die schweißtreibenden Wandertage belohnen sollen. Man muss auch mal Pech haben.

Glück hatten wir in den letzten Tagen nämlich eher. Abgesehen von verlotterten Wegen, die schon monatelang von den gleichen Baumstämmen versperrt werden, bekamen wir beispielsweise von Trailangel Bill auf seiner Veranda ein Eis spendiert, welches bei der Hitze wirklich willkommen war. Das gab uns vermutlich auch die letzte Kraft, um am Ende des Tages noch Smarts Mountain zu besteigen und zum Shelter auf der Spitze zu gelangen. Danke, Bill!

Hanover, NH

Aus Manchester wanderten wir lediglich zwei Meilen bis zum naechsten Shelter und verbrachten dort die Nacht mit Sectionhikern und Long-Trailern, andere Thruhiker des Appalachian Trails machten sich jedoch rar. Hatten wir in unserer vorherigen Planung niemals bedacht, in Vermont ordentlich Meilen machen zu koennen, knackten wir am naechsten Tag einfach mal unseren Rekord mit rund 28 Meilen – dafuer belohnten wir uns jedoch auch nach einem weiteren 20-Meiler mit gleich zwei Zerodays. Ort der Entspannung sollte das Hiker Hostel in Rutland, VT sein, welches von den „Twelve Tribes“ („Die Zwoelf Staemme“ in Deutschland) gefuehrt wurde: Einer religioesen Vereinigung, nicht unaehnlich der Amish People. In Gemeinschaft und unter totalitaerer sowie patriarchischer Fuehrung fuehrten sie neben dem Hostel ein gemuetliches Restaurant mit hervorragender Kost. Um unseren Geldbeutel ein wenig zu schonen nahmen wir das Angebot des Work For Stay in Anspruch – fuer unsere Uebernachtung im nach Maenner und Frauen getrennten Schlafsaal verbrachten wir insgesamt rund sechs Stunden mit Kartoffeln schaelen, gefrorene Erdbeeren und Bananen abwiegen und in Tueten packen, putzen usw. Da auch Mitglieder aus einer deutschen Gemeinschaft aktuell zu Besuch waren, wurden wir am ersten Abend zu einem Dessert und Kaffee eingeladen… waehrend wir stets von den deutschen Frauen unauffaellig „evangelisiert“ wurden. Man merkte deutlich, dass die Rekrutierung im Becken der AT-Hiker an einer sehr hohen Position stand, daher wurden wir fuer die naechsten drei Tage kaum in Ruhe gelassen. Wettgemacht wurde diese permanente Predigung aber auf alle Faelle durch das unfassbar gute Essen, da alle dort bleibenden Hiker ein Fruehstueck serviert bekamen.

Als wir am Mittwoch endlich entfliehen konnten, hatten wir erneut zwei 20-Meilen-Tage geplant, um heute in Hanover, NH sein zu koennen – und wie ihr lesen koennt, hat das mit minderen Verlusten auch geklappt. Unsere Beine sind von dem unablaessigen Auf und Ab ziemlich muede, unsere Koerper sind trotz dem in Deutschland verbotenen Einsatz des Insektizides „Deet“ zerstochen, doch wir freuen uns, endlich in New Hampshire zu sein. Der Spass faengt jetzt erst an, fuerchten wir.

Dachten wir schon in Harpers Ferry, der ideellen Haelfte, dass wir so unfassbar weit gekommen waeren, multipliziert sich dieses Gefuehl ins Unbegreifliche. Nur noch 440 Meilen trennen uns von unserem Ziel Mt. Katahdins, auch wenn dazwischen noch die White Mountains und Maines 100-Mile-Wilderness liegen. Das Hiker-Burnout, dass wir bei vielen Kompagnons und vor allem uns beobachten konnten, transformiert langsam aber sicher in Trotz und Biss – wir wollen einfach ankommen.