Nachdem wir ein unfassbar gutes Dinner mit echtem Fleisch zum Beißen in Great Barrington genießen durften, war die Zeit des Abschiedes von Jess und Sheffield gekommen – doch so ganz irgendwie auch wieder nicht. Wegen unserer schmerzenden Füße entschieden wir uns, in kommender Zeit bei einem Podologen vorbeizuschauen, der vermutlich stante pede der Ohnmacht anheim fallen würde, sobald wir uns unserer Socken entledigten. Jess übernahm freundlicherweise wieder die Telefoniererei und kam zu dem Ergebnis, dass der eine erst in wenigen Tagen, der andere erst im August für uns Zeit finden könnte. Die Alternative war daher die Notaufnahme des örtlichen Krankenhauses. Da wir schon die grausigsten Gruselgeschichten des amerikanischen Gesundheitssystems gehört hatten, waren wir auf alles gefasst – doch nicht auf eine unkomplizierte, schnelle, freundliche und kompetente Behandlung, wie wir sie erfuhren. Da der Arzt nach lokaler Betäubung meines Zehs schließlich ein Stück des Nagels herausschnitt und einen beachtlichen Verband anlegte, war an ein Weiterwandern am gleichen Tag nicht mehr zu denken. Zwei Nächte bei Jess konnten und wollten wir uns jedoch auch nicht mehr leisten, trotz dem verhältnismäßig günstigen Preis und der ungemeinen Gemütlichkeit ihrer Behausung. Stattdessen fuhr sie uns zu einem nicht weit entfernten Erholungscenter etwas nördlich auf dem Trail, wo wir als einzige Hikergäste gut unterkamen und uns breit machen konnten.
Von da aus starteten wir am frühen Morgen mit dem Ziel der erst wenige Tage zuvor geöffneten Upper Goose Pond Cabin, einer zur Hikerakkomodation umfunktionierten Jagd- und Fischerclubhütte, die ab Ende Mai von einem Caretaker beaufsichtigt wird. Da wir wieder die einzigen Wanderer vor Ort waren, wurden wir mit Weißwein, Chili und Nachos am Abend sowie Unmengen von Pancakes am Morgen verköstigt. Derart satt zogen wir also Richtung Norden, um uns in dem kleinen Örtchen Dalton, MA zum Bleiben beim ortsansässigen Trailangel zu entscheiden. Schon glücklich mit der Aussicht, trocken auf der Terasse übernachten und unseren Kartoffelpüree kochen zu können, waren wir nicht darauf gefasst, zu selbstgekochtem Dinner und Frühstück eingeladen zu werden. Nach Dusche im Communitycenter des Dorfes begaben wir uns wieder auf den Weg, um am Ende des Tages die Besteigung des höchsten Punktes Massachusetts‘ zu beginnen. Der immer stärker werdende Regen zwang uns in ein Shelter vor dem Gipfel, die Spitze musste also auf den Morgen verschoben werden. „Was eine tolle Aussicht!“ hätten wir dort vermutlich proklamiert – wenn wir mehr als 10 Meter in der Waagerechten hätten ausmachen können. Mt. Greylock zeigte sich allerdings so, wie sein Name vermuten ließ: grau, trübe, regnerisch.
Da wir am Tage zuvor bereits so ungemütlich nass geworden waren, dass all unsere Kleidung dringend in den Trockner verfrachtet werden musste, erledigten wir dies in North Adams, welches noch in der nördlichsten Ecke von Massachusetts liegt. Nach dem Besuch dort erreichten wir auf dem Weg zum Shelter die Vermont-Grenze und das südliche Ende des Stücks, auf dem der Long Trail und der unsere parallel verlaufen. Als ob die willkürliche Staatengrenze die Vegetation maßgeblich bestimme, verwandelte sich die Umgebung Vermont-Bilderbuch-typisch in Nadelwald und hohe Berge. Am Abend erreichten wir das Shelter am Glastenbury Mountain, den wir mit unseren verbliebenen Kräften ohne Gepäck bestiegen, da der oben zu findende Feuerturm mit einem Sonnenuntergang und einer atemberaubenden Aussicht lockte.
Mit Ähnlichem belohnte uns auch Stratton Mountain am Tage darauf, der erschöpfende Anstieg war jedoch vermutlich nur ein Vorgeschmack auf die bevorstehenden White Mountains in New Hampshire. Momentan verbringen wir den Mittag in Manchester, VT, um Vorräte aufzufüllen, nach einem wärmeren Schlafsack in meiner Größe zu schauen und unsere Wäsche zu waschen – unsere Körper müssen leider noch etwas ausharren, für Kaltduschen in der Wildnis oder gar einen Sprung in einen Bergsee zeigt sich das Wetter aktuell nicht freundlich genug.
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